Wirkt es sich auf Produktivität und Effizienz aus, ob der Arbeit in der Stadt oder in der Abgeschiedenheit der Berge nachgegangen wird? Welche Tätigkeiten erfordern gerade die spezifischen Vorteile des einen oder anderen Standorts? Ein Team der Unit Wirtschaftsgeographie und des Science IT Supports (ScITS) der Universität Bern ist der digitalen Multilokalität auf der Spur.
Die Erschliessung der Berggebiete mit Breitbandinfrastruktur, insbesondere mit Glasfasertechnologie, ist in vollem Gang. Lokale Initiativen wie miaEngiadina im Engadin oder NüGlarus im Glarnerland verkleinern den digitalen Graben zwischen Stadt und Land und tragen zum Wandel ländlicher Ökonomien bei1. Auch in der Neuen Regionalpolitik (NRP), die sich der Entwicklung ländlicher Regionen und Berggebiete widmet, ist die Digitalisierung ein Kernthema. Mit solchen Veränderungen gehen auch ortsunabhängige Arbeitsweisen von Wissensarbeitenden einher. So ersetzen Laptop, Smartphone und Internet die physische Präsenz am Arbeitsplatz. In dieser Hinsicht gewinnt die strategische Nutzung von Marginalität2 an Bedeutung.
In einem vom Schweizerischen Nationalfonds geförderten Forschungsprojekt zur digitalen Multilokalität untersuchen Forschende der Universität Bern, inwiefern sich die Nutzung digitaler Technologien zwischen dem Arbeitsplatz in der Stadt und dem in den Bergen unterscheidet. Weiter interessiert, wie sich die Nutzung der Marginalität auf die Arbeit auswirkt. Dabei werden die Arbeitspraktiken von Personen untersucht, die hauptsächlich in einem städtischen Umfeld tätig sind, jedoch zeitweise bewusst die Schweizer Berggebiete aufsuchen, um ihrer Arbeit nachzugehen.3
Was denken Sie?
Strategisch Distanz schaffen
Die ersten Resultate der Studie legen nahe, dass digitale Technologien unverzichtbar für eine multilokale Arbeitsweise sind. Dennoch arbeiten die Studienteilnehmenden im Berggebiet weniger an ihrem Laptop und mit ihrem Smartphone. Sie nutzen die Marginalität, um Abstand von den digitalen Technologien zu nehmen und um Gedankengänge auch einmal – ganz analog – auf ein Blatt Papier zu skizzieren.
Die Entfernung zu Vorgesetzten und Mitarbeitenden am städtischen Arbeitsplatz ermöglicht eine ruhige und geschützte Arbeitsatmosphäre. Durch geringere Ablenkung steigen Konzentration und Fokussierung auf die eigentliche Arbeit. Weniger Unterbrüche fördern zum einen intensive Phasen der Denkarbeit und zum anderen bieten sie Raum, um angehäufte oder pendente Aufgaben effizient abzuarbeiten. Darüber hinaus macht sich der Tapetenwechsel vom städtischen Umfeld in die Naturlandschaft der Berge durch eine positive Wirkung auf Arbeitsmoral und -motivation bemerkbar.
Doch scheint diese digitale multilokale Arbeitsweise auch Einschränkungen der Arbeit mit sich zu bringen. Die Abgeschiedenheit in den Bergen kann zur Isolierung führen. Dies zeigt sich unter anderem im erschwerten Austausch mit Mitarbeitenden und Vorgesetzten. Multilokale Wissensarbeitende kommen nicht darum herum, den Kontakt aktiv über die digitalen Kommunikationswege zu suchen und zu planen. Die Distanz erschwert zudem spontanes, persönliches Agieren und kann zur Reduktion des Einflusses auf Teamarbeiten und damit verbundene Entscheidungsfindungen führen. Eine mögliche Folge davon ist die Verlangsamung von Arbeitsprozessen.
Durch geringere Ablenkung steigen Konzentration und Fokussierung auf die eigentliche Arbeit.
Machen Berge kreativer?
Die fehlende physische Interaktion mit Teammitgliedern scheint sich auch auf kreative Tätigkeiten auszuwirken. Zwar nutzen die multilokalen Wissensarbeitenden die Marginalität für intensive Denkarbeiten und Brainstormings, jedoch scheinen die kreativen Arbeitsphasen an den städtischen Arbeitsplatz gebunden zu sein. Dies lässt sich damit erklären, dass Kreativphasen vorwiegend in Teamarbeit stattfinden. Offenbar ist es gerade der intensive, direkte Austausch, der für die nötige Kreativität in den Arbeitsprozessen verantwortlich ist. Digitale Kommunikationsmittel mögen hier zwar Abhilfe schaffen, können jedoch die physische Distanz nur selten kompensieren.
Digitale Multilokalität – was können wir davon mitnehmen?
Für eine digitale multilokale Arbeitsweise zwischen Stadt und Berg scheint die Nutzung digitaler Technologien unverzichtbar zu sein. Dies wirft ein kritisches Licht auf den digitalen Graben in geographischer Hinsicht: Einerseits bieten die Berggebiete aufgrund ihrer Distanz zu den städtischen Zentren eine geschützte und produktive Umgebung für wissensintensive Tätigkeiten. Andererseits scheinen die Berggebiete gar nicht mehr so abgelegen zu sein wie angenommen. Denn insbesondere die immanente digitale Verbindung zwischen den Arbeitsplätzen in der Stadt und auf dem Berg lässt physische Distanzen kognitiv schrumpfen.
Darüber hinaus lässt sich feststellen, dass Kreativität als kollektiver Prozess zu verstehen ist und vorwiegend am städtischen Arbeitsplatz im Austausch mit Mitarbeitenden stattfindet. Das Aufsuchen und Nutzen von Marginalität ist somit ein strategisches Mittel zur Erledigung spezifischer Aufgaben. An seine Grenzen stösst das Arbeiten in der Abgeschiedenheit eher dann, wenn Teamarbeit gefragt ist. Eine zyklische Arbeitsweise zwischen Stadt und Berg scheint die Effizienz und Produktivität zu fördern, indem die Vorteile der jeweiligen Arbeitsorte genutzt werden.
An seine Grenzen stösst das Arbeiten in der Abgeschiedenheit eher dann, wenn Teamarbeit gefragt ist.
Die Studie vergegenwärtigt, dass die Nutzung der Marginalität für digitale multilokale Wissensarbeitende ihren besonderen Reiz hat; insbesondere aufgrund der guten Vereinbarkeit von Freizeit, Arbeit und Familie, die durch das flexiblere Zeitmanagement möglich wird. Und dennoch scheint die digitale Multilokalität ein Privileg zu sein. Der Besitz einer Zweitwohnung in den Bergen oder die Verfügbarkeit eines freien Betts sind Voraussetzungen, um einer solch flexiblen Arbeitsweise nachgehen zu können.
Die digitale Multilokalität weist auf einen grundlegenden Wandel in der Form der räumlichen Arbeitsverrichtung hin – zumindest für diejenigen, die einer solchen Arbeitsweise nachgehen können. So rücken auch die Qualitäten der Berggebiete vermehrt ins Zentrum des Interesses und machen deutlich, dass die Entwicklungen der unterschiedlichen Raumtypen der Schweiz zusammen zu betrachten sind.
Reto Bürgin
Geograph/Soziologe und Doktorand in der Unit Wirtschaftsgeographie am Geographischen Institut der Universität Bern. Seine Forschungsschwerpunkte sind Digitalisierung in den Berggebieten, Urban Rural Linkages, Stadtgeographie/-soziologie sowie die Schriften von Lucius Burckhardt.