Kleines Netz,
grosser Halt

von Dario Zallot

Nachbarinnen und Nachbarn begleiten uns unser Leben lang. So unterschiedlich unsere Erwartungen, so unterschiedlich sind die Erfahrungen, die wir mit ihnen machen. Es zeigt sich: Nachbarschaften können uns einen wichtigen Rückhalt, eine Sicherheit im Leben bieten. Und Planung und Architektur können Rahmenbedingungen schaffen, die das möglich machen.

Einer, der das früh erkannt und formuliert hat, war der Metron-Mitgründer Hans Rusterholz. In seinem 1974 veröffentlichten Essay «Kleine Netze» geht er hart mit der «Wohlstandswelt der Abhängigkeiten» ins Gericht und macht einen Gegenentwurf zu Unterdrückung und Vereinzelung in der post-industriellen, super-mobilen Welt der Kleinfamilien: «Wir sollten uns (…) besinnen auf reale Möglichkeiten, unsere unmittelbare Umwelt wohnlicher, freundlicher, hilfsbereiter zu gestalten. Wir sollten dort, wo wir wohnen, die Lebensbedingungen durch Selbsthilfe verbessern.» Seine Ansätze werden nicht nur von Planerinnen und Planern aufgenommen, sondern auch durch Soziologinnen und Soziologen behandelt und etwa im Rahmen der Studie «Kommunikatives Wohnen»1 weiterentwickelt. Auch Rusterholz selbst belässt es nicht bei Worten. Zusammen mit seiner Familie setzt er sie um.

Die Siedlung der Familie Rusterholz in Niederlenz zeigt exemplarisch, welche Idee von Nachbarschaft hinter den Kleinen Netzen steckt. Sie ist über die Jahre organisch gewachsen, Gebäude wie auch gemeinschaftliche Infrastrukturen wurden im Laufe der Zeit nach Bedarf ergänzt. Die Bewohnerschaft der 23 Wohneinheiten besitzt umfassende Mitspracherechte und ist bewusst heterogen: Alter und sozialer Status unterscheiden sich zum Teil stark. Wo im Alltag Konflikte entstehen, wird versucht, diese offen auszutragen und gemeinsam Lösungen zu erarbeiten.

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Luftbild Siedlung Rusterholz, Niederlenz 1950

Nachbarschaft in verdichteten Siedlungen

Nachbarschaftliche Fragestellungen haben rund 50 Jahre nach Hans Rusterholz’ Essay nicht an Aktualität verloren. Mit dem revidierten Raumplanungsgesetz und der darin verankerten Lenkung der baulichen Entwicklung nach innen erhalten Vorschläge für ein gütliches Miteinander auf engem Raum neue Dringlichkeit. Es gilt, mit der baulichen auch eine soziale Verdichtung zu verknüpfen: Nutzungen wieder vermehrt zu durchmischen, um Quartiere dauerhaft mit Leben zu füllen, und dabei die Wohnfläche pro Kopf nicht weiter zu erhöhen, damit mehr Menschen auf gleichem Raum zusammenleben, wohnen und arbeiten können.

Doch wo Menschen – insbesondere mit unterschiedlichen Ansprüchen – zusammenrücken, wächst das Konfliktpotenzial. Hierfür sind in Planung und Architektur Lösungen zu entwickeln, die Alltagskonflikte so weit wie möglich mindern.

«Wir sollten uns (…) besinnen auf reale Möglichkeiten, unsere unmittelbare Umwelt wohnlicher, freundlicher, hilfsbereiter zu gestalten.» Hans Rusterholz

Stadt, Land, Wandel

Ob gewollt oder nicht: Bauliche Verdichtung hat stets einen direkten Einfluss auf die Nachbarschaften vor Ort und insbesondere auf die Zusammensetzung der Wohnbevölkerung. Untersuchungen in der Stadt Zürich haben gezeigt, dass gerade Ersatzneubauten diesbezüglich massgebliche Veränderungen mit sich gebracht haben.2 Diese Veränderungen können eine Nachbarschaft bereichern, können bestehende soziale Netze aber auch (zer)stören. So haben beispielsweise Personen, die in Zürich vom Abbruch der eigenen Wohnung betroffen waren, in rund zwei Dritteln der Fälle das Quartier oder die Stadt komplett verlassen.

Das Beispiel mag drastisch und städtisch geprägt sein. Massgebliche Veränderungen in der Zusammensetzung der Wohnbevölkerung lassen sich jedoch gerade auch im suburbanen und ländlichen Raum feststellen. Zwischen 2010 und 2020 sind Schweizer Gemeinden auf der Achse Genf – St. Gallen fast flächendeckend um 15% und mehr gewachsen.3 Hinter dieser Zahl stehen einzelne Menschen mit individuellen Bedürfnissen. Ihnen muss die Möglichkeit gegeben werden, sich mit ihrem (neuen) Umfeld zu identifizieren, sich darin wohl und damit verbunden zu fühlen.4

Gemeinsam entscheidende Voraussetzungen schaffen

Damit Siedlungen nicht nur in städte- bzw. ortsbaulicher, sondern auch in sozialer Hinsicht tragfähig gestaltet sind, müssen solche Bevölkerungsveränderungen antizipiert und begleitet werden. Als Planerinnen und Planer können wir lebendige Nachbarschaften und die sozialverträgliche Einbindung neuer Bevölkerungsgruppen nicht garantieren, noch gibt es dafür allgemeingültige Rezepte. Doch vielleicht im Sinne von Zutaten zeigen wir im letzten Kapitel dieses Hefts fünf Einflussfaktoren auf, illustriert mit Beispielen verschiedener Flughöhen und Zuständigkeiten, die eine Basis für ein gütliches Miteinander bilden und ein breites Möglichkeitsfeld aufspannen. Zusammen mit unseren Auftraggeberinnen und Auftraggebern, insbesondere den Gemeinden und Trägerschaften, arbeiten wir daran, hierfür die bestmöglichen baulichen, freiräumlichen und organisatorischen Voraussetzungen zu schaffen – und an bestehende Netze anzuknüpfen.

Dario Zallot

BSc FHO in Raumplanung FSU. Seit 2015 als Raum- und Verkehrsplaner bei Metron in den Bereichen Strassenraumgestaltung, Sozialraum sowie Stadt- und Arealentwicklung tätig.

1 Frohmut Gerheuser und Carola Schumann, Kommunikatives Wohnen, Möglichkeiten und einige soziale und räumliche Voraussetzungen fürs Zusammenleben in Wohngebieten. 1973.

2 Urs Rey und Stefanie Jörg, Jung und gebildet, Wohnersatzbau fördert den Bevölkerungswandel, werk, bau + wohnen 9-2018. S. 19–23.

3 vgl. Statistischer Atlas der Schweiz, Entwicklung der ständigen Wohnbevölkerung 2010–2020, Bundesamt für Statistik, 31.8.2021,
https://www.atlas.bfs.admin.ch

4 Inge Beckel, René Haubensak, Ein Architekt sui generis, müry salzman. 2021. S. 20.